Köln, Lanxess-Arena, 3. November 2025. Der Prophet ist erschienen – und hat sich gleich wieder umgedreht. Bob Dylan, 84, Literaturnobelpreisträger, lebender Mythos und offenbar allergisch gegen Augenkontakt, lieferte gestern Abend ein Konzert, das weniger Show war als vielmehr eine liturgische Übung in kollektiver Selbstverleugnung. Zehntausend Gläubige pilgerten herbei, um einen Mann zu sehen, der sie nicht sehen wollte. Und sie liebten es. Natürlich.
Der Einlass – eine digitale Exorzismus-Zeremonie
Noch bevor der erste Akkord erklang, wurde das Publikum gezwungen, sein teuflisches Werkzeug abzugeben: das Smartphone. In Yondr-Taschen, jene modernen Keuschheitsgürtel für die Digitalseele, verschwanden Tausende Geräte. „Immer dieser Scheiß Dylan“, zischte ein Fan – und steckte brav sein iPhone weg. Denn wer widerspricht schon einem Heiligen? Selbst wenn der Heilige einem den Mittelfinger zeigt, indem er einem den Blick verweigert.
Die Bühne – ein Schwarzes Loch mit Flügel
Kein Licht. Keine Leinwände. Kein „Hallo Köln“. Nur ein paar Lämpchen, die Dylan von hinten anstrahlten, sodass er aussah wie ein Schatten, der Klavier spielt. Man erkannte ihn an der Silhouette – und an der Tatsache, dass er sich weigerte, sich umzudrehen. Gitarre? Ja, aber nur mit dem Rücken zum Publikum. Als wollte er sagen: „Ich bin nicht hier, um euch zu unterhalten. Ich bin hier, um meine Steuererklärung vorzulesen – in Moll.“
Die Band? Exzellent. Vier Profis, die den Sound trugen, während der Meister in die Tasten haute – mit einer Fehlerquote, die bei jedem anderen als „kreative Freiheit“ durchgegangen wäre. Bei Dylan? „Genie im Alter.“ Klar.
Die Setlist – ein Exorzismus der Hits
Kein „Like a Rolling Stone“. Kein „Blowin’ in the Wind“. Stattdessen: neun von zehn Songs aus dem 2020er-Album Rough and Rowdy Ways. Als hätte Dylan gesagt: „Ihr wollt Nostalgie? Kauft euch eine Schallplatte. Ich spiele, was ich will.“ Und das Publikum klatschte. Weil man einem Propheten nicht widerspricht. Man nickt. Andächtig. Auch wenn man nach zwei Stunden denkt: „War das jetzt Kunst… oder einfach nur Arroganz mit Mundharmonika?“
Der Abgang – ohne Worte, ohne Zugabe, ohne Gnade
Nach 105 Minuten stand er auf, blickte kurz ins Rund – als wollte er prüfen, ob die Herde noch da ist – und verschwand. Kein „Danke“. Kein „Tschüss“. Kein Encore. Stattdessen: Ovationen. Standing Ovations. Für einen Mann, der gerade 10.000 Menschen wie Statisten in seinem eigenen Schweigekloster behandelt hatte. Die Promi-Loge – wo selbst die Ikonen kuschen
Wolfgang Niedecken, Wim Wenders, Björn Heuser – alle da. Alle ehrfürchtig. Niedecken, der sagt, ohne Dylan hätte er nie Songs geschrieben, murmelt: „Ein Scheinwerfer mehr wäre nicht schlecht gewesen.“ Übersetzung: „Selbst ich, der BAP-Mann, wage keine Kritik. Er ist ja heilig.“
Der Heiligenkult der Musikindustrie
Bob Dylan darf alles. Er darf nuscheln, falsch spielen, sich umdrehen, schweigen, Hits ignorieren – und wird trotzdem gefeiert. Weil er Bob Dylan ist. Weil wir ihm seit Jahrzehnten einen Heiligenschein aufsetzen, den er nie wollte – und der ihn längst erstickt.
Und während Dylan mit dem Rücken zum Publikum spielt, frage ich mich:
Wo sind die Carlos Santanas, die mit 78 noch Gitarren zerfetzen und dabei lächeln?
Wo die Bruce Springsteens, die drei Stunden lang singen, als wäre es ihr letzter Tag?
Wo die Luciano Pavarottis, die mit offenen Armen und offenen Herzen auf der Bühne standen – und nicht wie ein mürrischer Opa, der vergessen hat, wo er seine Brille hingelegt hat?
Dylan ist ein Mythos. Aber Mythen sind keine Ausrede für Respektlosigkeit.
Und irgendwann, liebe Fans, solltet ihr euch fragen:
Betet ihr den Künstler an – oder nur die Legende, die ihr euch selbst gebaut habt?
Standing Ovations gibt’s auch für Arroganz.
Aber Respekt? Den muss man sich verdienen.
Auch mit 84.
